„Prosa“
 

DAS HAUS AM DORFPLATZ




Grossvaters Haus stand am Dorfplatz. Vor dem Eintreten in die Stube umarmten mich Grossvaters und Base Kresentias Gerüche. Ein Gemisch von Tabak und Bettlersuppe. Gefühle und Erinnerungen.


Vom Stubenfenster aus habe ich den Dorfbewohnern zugeschaut. Von dort aus bestaunte ich das ungestüme Fasnachtstreiben, schrie ich den Bedrohten in Gedanken zu und beobachtete die Mächtigen beim Malträtieren ihrer Gefangenen. Aus der Küche kroch mir derweil der Duft des Schweineschwänzchens entgegen. Das simmerte in der braunen Sauce im Kochtopf über dem Feuer.


In einer Ecke der Stube brannte auf einem Tischlein das Armeseelenlichtlein und das Herz-Jesu-Bild hing an der Wand gegenüber. Ich betrachtete es oft, das riesige Bild mit den leuchtenden Farben, dem frei gelegten Herz mit der offenen Wunde und der Dornenkrone über der Aorta. Schauder und Faszination ergriffen mich beim Anblick dieses gekrönten Seelenausgangs. Was ich da sah, war die leibhaftige Seele in Gold gerahmt, getragen von dem guten Menschen Jesus Christus. Das hatte mir meine Tante Emma mehr als einmal erklärt. Rot, nicht unbefleckt weiss, war die Seele unseres Retters, auch nicht beschämend schwarz, sondern blutgetränkt und leuchtend rot, gesättigt von Leben, die verletzte Seele. Sie hatte gelitten für uns Sünder, war gezeichnet mit dem Wundmal der Lanze des Bösen und Uneinsichtigen.


In dieser Stube habe ich meinem Grossvater zugeschaut, wie er, im Bette liegend, seinen Daumen im leeren Pfeifenkopf herumdrehte, nichts sagte, an die Tür starrte, als ob er jemanden erwartete. Ich war klein und ahnte nicht, wer da eintreten sollte, merkte nicht, dass er im Sterben lag und dass das, was er in den Händen hielt, seine letzte Pfeife sein sollte. Sie war leer geraucht, ausgekühlt wie sein Leben. Er habe Wasser, hörte ich. Aber ich ahnte nicht, dass ihm das Wasser bereits bis zum Halse stand. Schon lange hatte er schwere Beine, konnte die Natursteintreppe aus rotem Verruccano, die zur Haustür führte, nur mit Mühe erklimmen.


Von dieser Natursteintreppe aus ging es durch einen dunklen Schlund hinein in das Haus der Grosseltern, oder genauer, in das Haus meines Grossvaters, denn eine Grossmutter gab es nicht, obwohl ich als Kind immer glaubte, Base Kresentia, seine Schwester, sei seine Frau, aber nicht meine Grossmutter.


Nein, ich kann mich an keinen Korridor erinnern. Und doch, es muss einen Hausgang gegeben haben, denn ich weiss, dass es nach links in die erwähnte Stube ging und von dort in das "Stüpli", in Grossvaters Schlafzimmer. Lief man geradeaus, betrat man die rauchgeschwärzte Küche, das Reich der Base Kresentia, der besten Bettlersuppenköchin der Welt. Bettlersuppe, so nannten wir ihre Bohnensuppe, ein braunes Mus, aus in Butter angeröstetem Mehl, gedämpftem Gemüse, aber vor allem aus Bohnen, Speck, und Gerste.


Stieg man von diesem vermeintlich nicht vorhandenen Korridor rechts die Treppe hoch, erreichte man auf halbem Weg geradeaus den Abtritt. An der Wand hing ein Papstbildnis. Papst Pius, der XII, war auf dem Abtritt aufgehängt, beaufsichtigte mit seinem strengen Blick die Geschäfte im Raum. Nach seinem Tod folgte ihm Papst Johannes, der XXIII. Der strenge Blick, aus der randlosen Brille, wurde ersetzt durch ein sanftes Lächeln, durch das umarmende Äugen des Mitfühlenden. Das trug vor dem Ablassen zur Entspannung bei, und das Abwerfen des Ballastes wurde entsprechend erleichtert. Man hörte das befreiende Plumpsen im Klo. Jeder Stuhlgang ein Ablass, eine Befreiung. Mit der lokalen Zeitung wurde hinterher der Allerwerteste geputzt, dies nicht, ohne vorher, bei spärlichem Licht, das durch die Bretterspalten und durch den Gugger in den Raum fiel, das Neueste gelesen zu haben. Die Aktualität erreichte uns beim Stuhlen. Im Spätherbst und im Winter, wenn die Winde um den Hintern pfiffen und ein ganz neues Empfinden von Leben und Frische auslösten, veränderte sich die Handlung in Raum und Zeit. Das Geschriebene wurde an jenem Örtchen auf einmal nebensächlich, man verzichtete bei kurzen Sitzungen gerne auf längeres Studium des Aktuellsten, zumal die Dunkelheit, das Lesen fast verunmöglichte.


Stieg man nach getaner Arbeit weiter treppauf, erreichte man die Schlafkammer der Base. Die Tür war stets geschlossen, verwehrte den Zutritt. Nur einmal bot mir Base Kresentia die Möglichkeit, ihr Zimmer zu betreten. Ich war ihr unbemerkt nachgestiegen. Und während sie im alten Kasten nach Süssigkeiten suchte und diese von Schnupftabak und Staub reinigte, durchkämmten meine Blicke das Zimmer. Der Geruch von Mottenkugeln und ranziger Butter schlug an meine Nase. Schwermut tropfte von den Holzwänden der Kammer. Base Kresentia steckte mir den an der dunklen Kleiderschürze gereinigten Zuckerorangenschnitz in den Mund. Ich war nicht unglücklich, dass ich das Zimmer verlassen konnte.


Jahre später, nach Grossvaters Tod, wurde das alte, schwarze Holzhaus am Dorfplatz ausgehöhlt und umgebaut. Papst  Johannes Paul,  der VI. , erlebte den gewissen Ort nicht mehr. Meine Tante Emma zügelte vorher ins Altersheim und nahm ihren Papst samt Seelenlichtlein mit. Mit dem Neubau zog eine fortschrittlichere Toilettenkultur mit hoch hygienischem, rosa und himmlisch weichem Klosettpapier ins weisse Haus am Dorfplatz ein. Für empfindliche Gemüter gab es sogar einen Klosomaten. Es wurde von Gesäss und Schüssel weggespült, was nicht sein durfte. Die Informationen liefen fortan nicht mehr über das Abtreten und sie entfernten sich weiter vom Latrinenweg. Man besuchte das WC, sass auf der Toilette, reinigte sich den Po, anschliessend die Hände am Lavabo und ein lächelnder Blick in den Spiegel ersetzte das Bildnis des Papstes.

Auch das Herz-Jesu-Bild hing nicht mehr in der Stube. Ich habe es aus den Augen verloren. An einer Fronleichnamsprozession habe ich es zum letzten Mal gesehen. Möglich, dass es vor dem Umbau zerkleinert, zusammengelegt vors Haus gestellt und von der Abfuhr in die Verbrennungsanlage geführt worden war. Vielleicht aber wurde es in eine Garage gestellt, steht heute noch dort, hat Schimmel angesetzt und wartet auf die Auferstehung am jüngsten Tag.

                                 

                                          Beda  J. Zimmermann

                                                Terra Plana 1/2007











Im letzten Wagen


Er sehe noch heute den Zug, wie er sich fortbewege, wie er hinausgerollt sei aus dem Bahnhof, sehe noch jenen letzten Wagen, das rot blinkende Schlusslicht unten rechts, an der letzten Zugskomposition, sehe ihr scheues Lächeln, aus dem Fenster, ganz hinten. Nein, er wisse nicht, wem es gegolten habe, wisse auch nicht, ob sie geahnt habe damals, dass sie nicht mehr, jedenfalls nicht mehr als ledige, allein stehende Person zurückkehren würde in diese Gegend der Schweiz, aussteigen würde aus einem Zug auf diesem Bahnhof, hier in Sargans, so wie vor Jahren als gerade schulpflichtiges Kind, bei der Ankunft umgeben von fremden, ungewohnten Lauten, neuen Leuten, fernen Gestalten, in einer anderen Welt.


Nein, damals habe er das nicht wissen können, habe nicht wissen können, ob sie es wusste, sowie er auch nicht geahnt habe damals, auf dem alten Damenrad sitzend, dass sie sich auf den Heimweg begeben hatte in jenes andere Land am Bosporus, in ihre geliebte Stadt Istanbul, mit der uns kulturgeschichtlich nicht allzu gute Erinnerungen verbänden, nach  Konstantinopel.

Im Übrigen vermute und glaube er auch nicht, dass sie ihn gesehen habe. Er habe auch nicht geahnt, damals, dass es ein Abschied für immer werden würde.

Es sei Zufall gewesen, dass er sich um diese Zeit auf dem Bahnhofsgelände aufgehalten habe. Er wisse nicht mehr genau, ob sie ihn in irgendeiner Form auf ihre Abreise aufmerksam gemacht habe. Jedenfalls es sei ein Wochentag gewesen, wie jeder andere und er sei da gewesen, mehr zufällig, so es denn Zufälle überhaupt gebe, wisse nicht mehr genau, ob es ein Dienstag, ein Mittwoch gewesen sei, denke aber eher an einen Freitag, denn er gehe davon aus, dass kaum jemand an einem Montag, Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag verreise, zumal für immer.


Eines wisse er noch genau, es sei gegen Abend gewesen, die Sonne sei tief gestanden, hätte ihn beim Nachschauen geblendet, die Schwalben seien in tiefen Bogen und weiten Schlaufen über das Bahnhofsareal geflogen und er habe seinen rechten Fuss auf jenen drittuntersten, in eine Eisenfassung eingelegten, Kunststeintritt der Passerellentreppe gestellt gehabt, als er zu sehen begann, wie sie gerade damit beschäftigt war, vom Perron aus, in den letzten Wagen des eingefahrenen Zuges zu steigen. Auf diesen dritten Tritt habe er seinen Fuss stets hingestellt, der habe ihn unterstützt sein Gewicht bequem zu balancieren, ihn im Gleichgewicht zu halten, ihn vor dem Fall zu bewahren. Ja, seinen rechten Fuss habe er auf der Passerelle abgestützt.


Es sei damals so gewesen, dass der Grundwasserspiegel zu hoch und der Druck des Grundwassers in Sargans so gross gewesen wäre, dass nicht im Entferntesten daran zu denken gewesen sei, eine Unterführung, weder für die Autos noch für die Fussgänger zu errichten, zumal die technischen Erkenntnisse bei weitem nicht auf dem heutigen Stand der Dinge gewesen seien, sodass man für das Übersetzen keine Unter- sondern eine Überführung gebaut habe und das sei auch der Grund gewesen, weshalb man in Sargans über mit Karbolineum getränkte Eichenschwellen, die heute aus umwelt- und entsorgungstechnischen Gründen nicht mehr erlaubt wären, von einem Perron auf das andere wechseln durfte, ja musste.


Jedenfalls müsse sie ebenerdig über diese behandelten Eichenschwellen auf ihr Perron zwei geschritten sein, müsse dort gewartet haben, bis der über Buchs von Wien her eintreffende Wienerwalzer rückwärts einfahrend zum Stillstand gekommen sei. Ihr Papa oder Onkel, jedenfalls eine erwachsene männliche Person habe die Türe geöffnet und er habe gesehen, wie sie die Tritte hinaufgestiegen und im Wageninnern verschwunden sei, und wie die männliche Gestalt ihr einen Koffer nachgeschoben habe.

In Sargans hätten zu jener Zeit die Züge der Strecke Paris- Zürich-Wien-Budapest stets Richtung Chur fahren müssen, hätten dann sozusagen eine Spitzkehre eingelegt, und seien deshalb schliesslich rückwärts in den Bahnhof eingefahren. Man habe dann die Lokomotive abgekuppelt, umrangiert und vom nunmehr hinteren Ende des Zuges wieder an das vordere Ende gehängt. Die Südostschlaufe, auf der die Züge heute, in einem grossen Bogen in ihre angestrebte Richtung fahren können,  habe es damals noch nicht gegeben.

Das Umhängen der Lokomotive habe gedauert und er hätte genügend Zeit gehabt, sich problemlos auf ihr Perron hin zu bewegen, sich bemerkbar zu machen, von ihr gebührend Abschied zu nehmen, aber er habe zu jenem Zeitpunkt wie gesagt, nicht an Abschied gedacht, zudem habe ihn die ältere männliche Gestalt davon abgehalten, spontan auf sie zu zueilen.


So habe er ihr Einsteigen in den Wienerwalzer beobachtet, seinen rechten Fuss auf dem dritten Tritt der Passerelle, die von der einen Seite des Bahnhofsgeländes auf die andere Seite geführt habe und die dafür benutzt werden musste um auf kürzestem Weg auf den Bahnhofsplatz oder von dort weg zu gelangen, weil aus gesagten Gründen keine Unterführung gebaut werden konnte. Die Passerelle, ein Konstrukt aus Eisenteilen und Waschbetonplatten, die Eisenteile ähnlich vernietet wie die Teile des Eifelturmes zu Paris, wobei er gestehen müsse, dass er diese Vernietung noch nie eigenäugig und in Wirklichkeit gesehen habe. Dieses Bauwerk, eben diese Passerelle, habe er während seiner Gymnasialzeit in Chur täglich benutzt. Damals  sei er hier in Sargans auf der einen Seite trepphoch gerannt, auf halbem Weg sei die Plattform gewesen, auf der ältere Menschen gerne eine Pause eingelegt, in sich geruht oder einen Blick über die Landschaft gewagt hätten. Erst dann hätten sie mit begleitender Hilfe oder alleine den anstrengenden Weg hinauf oder hinunter tief atmend unter die Füsse genommen. Er selbst habe jeweils zwei Tritte in einem bewältigt, habe oben den von starken Eisenschienen und grobem Eisengitter eingepferchten Übergang rennend durchquert, habe unter sich die elektrischen Fahrleitungen der Züge, in der Mitte das gelbe Täfelchen mit dem elektrischen Blitz im Vorbeigehen wahrgenommen. Er vermute, dass der Durchgang deshalb so vergittert worden sei, um Unbesonnene, Verzweifelte oder unglücklich Verliebte, die in der Dämmerung oder in frühen Morgenstunden nach dem Tod suchten, vor dem jämmerlichen Verglühen zwischen den Drähten der Fahrleitung zu bewahren. So habe er sich das damals vorgestellt, wobei er gestehen müsse, dass er werktags kaum Zeit für solche Gedanken gehabt habe und ebenso schnell wie hinauf, auch hinüber und auf der dem Bahnhof zugewandten Seite hinunter gestochen sei, dabei den Zug nach Chur stets erreicht habe, wenn auch ab und zu erst in Fahrt, aufspringend auf das Trittbrett, zum Unmut des begleitenden Zugspersonals, eines Kondukteurs oder Zugführers. Dank dieses Bauwerks, der Passerelle, habe er den Zug stets rechtzeitig erreicht, hätte andererseits mit dem Fahrrad an der Barriere, auf den einfahrenden Zug warten müssen und hätte dabei, je nach Lust und Laune des Barrierewärters, die Barriere schneller oder später hoch zu kurbeln, eben diesen Zug vielleicht verpasst.


Wie auch immer, er erinnere sich noch, wie sie gemeinsam, sie und er, in jener Nacht mit dem Fahrrad über den Feldweg gefahren, wie sie abgestiegen, querfeldein gehüpft, Hand in Hand im Maisfeld verschwunden seien, wie sie sich ein Plätzchen gesucht und wie sie es schnell gefunden hätten und wie es nicht unangenehm gewesen sei, auch wenn sich die Maissstängel ganz allmählich und in immer aufdringlich werdender Art und Weise erst an den Knien, später am Rücken bemerkbar gemacht hätten. Er erinnere sich auch, wie er mit ihr im Strandbad an der Sonne gelegen, wie er gestaunt habe über all diese fremdländischen Jungs rund um sie und wie sie ihm angerufen habe, mitten in der Nacht, ihm mitgeteilt habe, dass sie auf dem Bungertfest sei in Sargans, dass der Mond günstig wäre, dass sie nicht beobachtet werde und er solle doch kommen. Er erinnere sich auch, wie sein Bruder bei einem Spaziergang über die Felder ihm versucht habe zu erklären, dass unsere Eltern und dass er, und überhaupt, dass alle dächten, dass das nicht so einfach sein würde, eine muslimische Freundin, geschweige denn Frau und dass er sich das gut überlegen müsste.

So wisse er bis heute nicht, ob er sie vertrieben, ob sie von sich aus gegangen, oder ob sie ihm genommen worden sei.


Jahre später sei er auf der Rolltreppe des Kaufhauses Vilan, so habe der Manor damals noch geheissen, habe zur Maus-Frére-Gruppe gehört, hinaufgerollt und da habe er auf der andern Seite in das Gesicht einer Frau geblickt, sie habe nur kurz in seine Augen geschaut und er habe das Gefühl gehabt, er kenne sie, von irgendwo, er habe sich umgedreht, ihr nachgeschaut und sie habe sich nicht gedreht.

Da habe er vermuten müssen, dass er sich geirrt habe. Eines habe er auf den ersten Blick festgestellt, dass sie, wenn sie es denn gewesen sein sollte, in der Zwischenzeit um Jahre älter geworden war, aber das würde sie wohl auch, so sie es denn gewesen wäre, auch von ihm gedacht haben.


Jedenfalls, er sei dagesessen, damals, auf seinem alten Rio, auf Mutters Damenrad mit Rücktritt, den rechten Fuss auf dem dritten Tritt der Passerelle abgestützt, der habe ihn im Gleichgewicht gehalten, vor dem Fall bewahrt, er habe gesehen, wie sie wegfuhr, sich immer weiter von ihm entfernte, habe aber nicht geahnt, dass es ein Abschied für immer sein würde.


                            bj zimmermann 27/08/08



gelesen bei strömendem Regen

am 16.9.08 um 10.30 Uhr auf dem

Bahnhof Sargans, anlässlich des

literarischen Spaziergangs der

Gruppe "Literatur im Sarganserland"

KLARA, KARL UND KRISTIN KRISTALLIN


Irritationen zu Renata Schalchers Skulpturen-Gruppe "Kristallin"


Die braunen Körper stehen da im Park, stehen schräg in der Landschaft. Zum Umfallen die einen, fast aufrecht die andern, stehen rostbraun im Grünen, hineingestellt in den Park, abseits stehen Mehrfamilienhäuser, in der Ferne der Fläscherberg, darüber der Himmel. Stehen da. Beinlos, armlos, ihr Kopf aus Glas, aus Spiegelglas. Ein Schimmer von Farbe in den einen, Spiegelglanz in den andern. Links der Blauglockenbaum, die Eibe, ein kalifornischer Bergmammutbaum, Riesen, rechts der Quellenhof, im Rücken die Blutbuche, das Grand-Hotel Hof, die Föhre. Riesen. Stehen da, einfach da.

Auf Kieswegen wandern Spazierende, stehen Betrachtende, bestaunen die braunen Körper. Riesenkristalle. Viereckig die einen, fünfeckig die andern, stehen fünfeckig zwischen viereckigen Körpern, Fünfsternhotels und Bäumen.


Klara von Klausewitz, geborene König, wird gleich aufstehen, vorher ihren Mann Karl von Klausewitz wecken. Er liegt dösend im Bett, in der Suite des Hotels. Sagt Klara zu ihrem Karl:“ Die Sonne scheint mein lieber Karl und Kristin Kristallin wartet auf uns im Park.“


"Glaubst d
u", geliebte Königin, fragt Karl seine Klara und gähnt, "Kristin, mit ihrer Gruppe, ob wir sie heute treffen?" "Irgendwann wird sie uns etwas zu sagen haben, hoffe ich", erwidert Klara, steht bereits am Bettrand, befiehlt:" Mein lieber Karl, steh auf, Kristin wartet... "und das Frühstück",  ergänzt Karl, "und nach dem Frühstück geht’s zu Kristin auf den Rasen."


"Die Gruppe. Sie wartet auf uns", sagt Klara, "ja, klar", sagt Karl, "sie steht einfach da, seit Tagen da und wartet geduldig. Nichts sagend." " So nichts sagend“, sagt Klara.


Und während sie das sagen, treten sie näher, schreiten über das Grün des Rasenteppichs.


„Die Spiegel da, da oben“, sagt Karl, „diese Spiegelköpfe, die ändern ihre Farbe, sie sind grün, dann gelb, dann rosa, blau, dann wieder grau und weiss.


Sie treten näher. Klara lächelt, sagt zu Karl: "Ein sprödes Rosa, Lilapause, eisblau, schleiergrün, jetzt wolkengrau und kreidebleich."


Sie schmunzeln. Klara sieht sich selbst in Kristallin und Karl, er sieht sich auch im Spiegel.


„ Ich bin ", sagt
sie, "bin in und ausser mir", sagt er. So geht das hin und her. "Bin gelb, bin schwefelgelb, bin rot, bin tizianrot." Sie lacht. "Bin schweinfurtgrün", lacht er, "Yves Klein, so blau", sagt sie. "Ich laufe durch den Park, durch das Hotel. Ich bin nicht mehr, bin weg". "Ach nein", sagt er, "das kann nicht sein. Ich hör dich ja, du bist. Ich seh dich auch." Sie lacht, sagt: "Schau." "Schau das", sagt er.


So sprechen sie, spricht er, geht er, spricht sie, geht sie und hüpfen fast wie Kinder, fühlen sich so federleicht, so kinderleicht vergnügt. Verspielte Köpfe. Spiegelköpfig schreiten sie durchs Labyrinth der schweren Eisensäulen, tanzen sie im Labyrinth aus Rost durchs Grün.


Da taucht Kristin Kristallin auf, bleibt unbeachtet, zelebriert: "Sind  kristallin, sind nicht amorph, sind feste Körper, regelmässig angeordnet, sind."

So spricht sie vor sich hin. Taucht weg, taucht ab und unter.


"Du Karl, jetzt schau mich an. Ich bin die Sonne, bin das Licht im Raum. Da schau der Raum, das Licht, und da der Gang, der Vorhang, leuchtend, schimmernd, sichtig durch die Wände, durch den Vorhang in die Tiefe, in den blauen Raum, das blaue Reich und da, dahinten diese dunkle Öffnung führt nach Irgendwo. Ich falle. Halt mich, dunkle Kräfte zieh'n mich in die Tiefe und die Sonne zieht mich in die Höhe. Und der Himmel reisst, zerreisst, reisst mich entzwei. Die Sonne zieht uns beide in die Höhe, fallen in die Tiefe, in die Wolken, in den wirren Wolkenhimmel, in den Park."


Kristin Kristallin sagt, erneut nicht erkannt, steht unbewegt im Schatten der Blutbuche: "Vieles wird mit dem Auge nicht erkennbar, ist spielerisch bewegt, scheint Ironie und Zufall. Aus der leeren Tiefe, scheint das innere Licht, verwandelt, wandelt sich, setzt Zeichen.“


Und Klara sagt: „Ich sehe dich, ich sehe mich in dir, dann wieder nicht, dann dich, dann wieder nichts, seh nichts als Farbe, Licht." "Ich seh die Leute, stehen grün am Himmel, gehen durch den blauen Park, sie sitzen aufs Hotel und das Hotel, es wandert lilafarben durch die Bäume, trifft auf die Kirchturmspitze und sie plaudern, ich vermeine sie zu hören und die Kirchturmspitze biegt sich krumm. Sie lacht. Sie lacht sich gelb und krumm."


Und Kristin Kristallin steht da, erklärt sehr nüchtern: "Spiegel spielen, führen in die Irre, reflektieren, irritieren, wandeln und verändern, spielen mit dem Sinn der Sinne. Kunst auf Zeit, sie ist, ist weg, spielt mit den Dingen der Umgebung. Die Spiegel spiegeln, unerklärlich Schönes, Dinge überschreiten Grenzen zwischen Wirklichkeit und Schein. Sprunghaft ist der Wechsel. Du bist erfüllt vom Reich der Sinne, bist ergriffen vom launigen Spiel und verfällst der Illusion."


Klara ruft: "Ich sehe nichts als Bäume, Samenkapseln, seh die Kirche in den Bäumen, seh die Kirche in den Samenkapseln in den Bäumen hängen, seh die Samenkapsel, wie sie aufspringt, wie die Samen fliegen, seh die Kirche durch die Bäume fliegen, fliegend mit den Samen guten Boden suchend. Ich bin in den Bäumen, mit den Bäumen in der Kirche, mit der Kirche im Hotel, bin grün, bin gelb, ich bin die Kirche, bin der frische Samen, bin der gute Boden, bin das Licht."


So spricht sie, spricht er und sie laufen, zwischen Säulen, haben über sich den blauen Himmel und vor sich die irren Wirren, sprechen vor sich hin in sich hinein, sprechen in den Lilahimmel, Rosahimmel, in den Regen, in den Untergang der Welten, sprechen in die Säulenreste, den Balkon, sie sprechen wolkengrau ins Wolkenweiss, durch leise Wände, blauen Schimmer, werden leuchtend gelb und rosarot verklärt zum Lilahimmelrosablau.


"Ein Spiel von Farbe, Licht, in Raum und Zeit. Ein Stück der Leere aus dem Raum geschnitten", sagt Kristin Kristallin, " Ein Stück des Raumes in die Leere verpflanzt. Ein bisschen Zeit aus dem Alltag verschwendet. Ein bisschen Alltag genüsslich als Zeit verwendet. Ein durchscheinender Durcheinanderalltag. Blick in andere Welten, andere Zeiten, andere Leben."


"Bin wie verwandelt, ich, ich bin, bin wie verwandelt."


Kirche, Bäume, Kirche im Hotel, Hotels in den Bäumen, lachend.

Lacht die Kirche, stell dir vor die Kirche lachend, lacht Kirche lacht die Welt. Lacht die Welt, dann lacht der Himmel, lacht der Himmel, lacht die Seele. Lacht die Welt in der Kirche, wird die Kirche zum Hotel.

Lacht die Welt im Hotel in der Kirche, die Kirche im Hotel in der Welt. 

Gehen Leute durch den Park ins Hotel durch die Bäume in die Kirche, gehen ins Kirchenwelthotel, betreten durch den Lilahimmel unbemerkt das Paradies auf Erden. Sehen gehend, gehen sehend.


"Säulen", sagt sie, "sonderbare Säulen, Götter, dieser Rausch, ich fliege. Himmel, diese Farben." Säulen fliegen. Das Hotel, es wird zum Tempel. "Untergang. Die Welt geht unter. Ich, ... ich will die Augen schliessen und die Säulen fassen, sie erfassen. Bist du rot, braun, rostig, sag, wo stehst du, bist du, bist du oben unten, bist du ich, ich du? Du sag mir: Bist du Licht im Dunkeln, Nacht im Licht."


Beide laufen tastend durch die Säulen.


"Weisst du, du, du bist die Grüne, bist das Gelbe, bist das Ei", sagt er.

"Du, du bist das Schräge, bist das Braune, bist das Schiefe in der Landschaft", sagt sie.


Kristin fragt: "Wisst ihr das: Die kristalline Intelligenz ist fähig, sich im Laufe des Lebens zu verändern. Wo seid ihr? Hört ihr mich? Die kristalline Intelligenz kann beeinflusst werden."


Öffne die Augen Karl und steh hier hin."

"Mein Gott, ich glaube nicht und sehe doch, bin Gott, bin Karl, bin Bruder Klaus und breite meinen Mantel aus, bin Schutz und Schirm und unter mir mein Spiegelbild, ein Kartenspiel, bin Dame, König, Schaufel, Herz, in gelb gefärbt und tanze durch den Park. Ich stehe auf dem Kopf. Kopf über in der Welt. Bin eine Kopfgeburt. Das Gras wird Kies, wird Himmel, rot, jetzt bin ich weg, bin tizianrot, bin tot."


"So wird das sein. Ich seh den dürren Arm, die schwarz verkohlte Hand. Sie will, sie sucht, versucht, versinkt im tizianroten Meer, im Teer, ist dünn und matt und sucht und ist, nicht mehr."


"Kristin Kristallin, sag, wo bist du?"

"Vielleicht treffen wir sie morgen. Klara komm, genug für heut. Es wird Zeit für das Gläschen Weissen im Park.“


Klara und Karl von Klausewitz laufen gemächlich weiter. Und Kristin Kristallin steht da und wartet."




                    Beda Johannes Zimmermann im August 09