DAS HAUS AM DORFPLATZ
Grossvaters Haus stand am Dorfplatz. Vor dem Eintreten in die Stube umarmten mich Grossvaters und Base Kresentias Gerüche. Ein Gemisch von Tabak und Bettlersuppe. Gefühle und Erinnerungen.
Vom Stubenfenster aus habe ich den Dorfbewohnern zugeschaut. Von dort aus bestaunte ich das ungestüme Fasnachtstreiben, schrie ich den Bedrohten in Gedanken zu und beobachtete die Mächtigen beim Malträtieren ihrer Gefangenen. Aus der Küche kroch mir derweil der Duft des Schweineschwänzchens entgegen. Das simmerte in der braunen Sauce im Kochtopf über dem Feuer.
In einer Ecke der Stube brannte auf einem Tischlein das Armeseelenlichtlein und das Herz-Jesu-Bild hing an der Wand gegenüber. Ich betrachtete es oft, das riesige Bild mit den leuchtenden Farben, dem frei gelegten Herz mit der offenen Wunde und der Dornenkrone über der Aorta. Schauder und Faszination ergriffen mich beim Anblick dieses gekrönten Seelenausgangs. Was ich da sah, war die leibhaftige Seele in Gold gerahmt, getragen von dem guten Menschen Jesus Christus. Das hatte mir meine Tante Emma mehr als einmal erklärt. Rot, nicht unbefleckt weiss, war die Seele unseres Retters, auch nicht beschämend schwarz, sondern blutgetränkt und leuchtend rot, gesättigt von Leben, die verletzte Seele. Sie hatte gelitten für uns Sünder, war gezeichnet mit dem Wundmal der Lanze des Bösen und Uneinsichtigen.
In dieser Stube habe ich meinem Grossvater zugeschaut, wie er, im Bette liegend, seinen Daumen im leeren Pfeifenkopf herumdrehte, nichts sagte, an die Tür starrte, als ob er jemanden erwartete. Ich war klein und ahnte nicht, wer da eintreten sollte, merkte nicht, dass er im Sterben lag und dass das, was er in den Händen hielt, seine letzte Pfeife sein sollte. Sie war leer geraucht, ausgekühlt wie sein Leben. Er habe Wasser, hörte ich. Aber ich ahnte nicht, dass ihm das Wasser bereits bis zum Halse stand. Schon lange hatte er schwere Beine, konnte die Natursteintreppe aus rotem Verruccano, die zur Haustür führte, nur mit Mühe erklimmen.
Von dieser Natursteintreppe aus ging es durch einen dunklen Schlund hinein in das Haus der Grosseltern, oder genauer, in das Haus meines Grossvaters, denn eine Grossmutter gab es nicht, obwohl ich als Kind immer glaubte, Base Kresentia, seine Schwester, sei seine Frau, aber nicht meine Grossmutter.
Nein, ich kann mich an keinen Korridor erinnern. Und doch, es muss einen Hausgang gegeben haben, denn ich weiss, dass es nach links in die erwähnte Stube ging und von dort in das "Stüpli", in Grossvaters Schlafzimmer. Lief man geradeaus, betrat man die rauchgeschwärzte Küche, das Reich der Base Kresentia, der besten Bettlersuppenköchin der Welt. Bettlersuppe, so nannten wir ihre Bohnensuppe, ein braunes Mus, aus in Butter angeröstetem Mehl, gedämpftem Gemüse, aber vor allem aus Bohnen, Speck, und Gerste.
Stieg man von diesem vermeintlich nicht vorhandenen Korridor rechts die Treppe hoch, erreichte man auf halbem Weg geradeaus den Abtritt. An der Wand hing ein Papstbildnis. Papst Pius, der XII, war auf dem Abtritt aufgehängt, beaufsichtigte mit seinem strengen Blick die Geschäfte im Raum. Nach seinem Tod folgte ihm Papst Johannes, der XXIII. Der strenge Blick, aus der randlosen Brille, wurde ersetzt durch ein sanftes Lächeln, durch das umarmende Äugen des Mitfühlenden. Das trug vor dem Ablassen zur Entspannung bei, und das Abwerfen des Ballastes wurde entsprechend erleichtert. Man hörte das befreiende Plumpsen im Klo. Jeder Stuhlgang ein Ablass, eine Befreiung. Mit der lokalen Zeitung wurde hinterher der Allerwerteste geputzt, dies nicht, ohne vorher, bei spärlichem Licht, das durch die Bretterspalten und durch den Gugger in den Raum fiel, das Neueste gelesen zu haben. Die Aktualität erreichte uns beim Stuhlen. Im Spätherbst und im Winter, wenn die Winde um den Hintern pfiffen und ein ganz neues Empfinden von Leben und Frische auslösten, veränderte sich die Handlung in Raum und Zeit. Das Geschriebene wurde an jenem Örtchen auf einmal nebensächlich, man verzichtete bei kurzen Sitzungen gerne auf längeres Studium des Aktuellsten, zumal die Dunkelheit, das Lesen fast verunmöglichte.
Stieg man nach getaner Arbeit weiter treppauf, erreichte man die Schlafkammer der Base. Die Tür war stets geschlossen, verwehrte den Zutritt. Nur einmal bot mir Base Kresentia die Möglichkeit, ihr Zimmer zu betreten. Ich war ihr unbemerkt nachgestiegen. Und während sie im alten Kasten nach Süssigkeiten suchte und diese von Schnupftabak und Staub reinigte, durchkämmten meine Blicke das Zimmer. Der Geruch von Mottenkugeln und ranziger Butter schlug an meine Nase. Schwermut tropfte von den Holzwänden der Kammer. Base Kresentia steckte mir den an der dunklen Kleiderschürze gereinigten Zuckerorangenschnitz in den Mund. Ich war nicht unglücklich, dass ich das Zimmer verlassen konnte.
Jahre später, nach Grossvaters Tod, wurde das alte, schwarze Holzhaus am Dorfplatz ausgehöhlt und umgebaut. Papst Johannes Paul, der VI. , erlebte den gewissen Ort nicht mehr. Meine Tante Emma zügelte vorher ins Altersheim und nahm ihren Papst samt Seelenlichtlein mit. Mit dem Neubau zog eine fortschrittlichere Toilettenkultur mit hoch hygienischem, rosa und himmlisch weichem Klosettpapier ins weisse Haus am Dorfplatz ein. Für empfindliche Gemüter gab es sogar einen Klosomaten. Es wurde von Gesäss und Schüssel weggespült, was nicht sein durfte. Die Informationen liefen fortan nicht mehr über das Abtreten und sie entfernten sich weiter vom Latrinenweg. Man besuchte das WC, sass auf der Toilette, reinigte sich den Po, anschliessend die Hände am Lavabo und ein lächelnder Blick in den Spiegel ersetzte das Bildnis des Papstes.
Auch das Herz-Jesu-Bild hing nicht mehr in der Stube. Ich habe es aus den Augen verloren. An einer Fronleichnamsprozession habe ich es zum letzten Mal gesehen. Möglich, dass es vor dem Umbau zerkleinert, zusammengelegt vors Haus gestellt und von der Abfuhr in die Verbrennungsanlage geführt worden war. Vielleicht aber wurde es in eine Garage gestellt, steht heute noch dort, hat Schimmel angesetzt und wartet auf die Auferstehung am jüngsten Tag.
Beda J. Zimmermann
Terra Plana 1/2007